All you need is love, love, love is all you need.
Was war das wohl für ein Gefühl damals vor dem Fernseher, als dieser Beatles-Song entstand, live quasi, und die ganze Welt nahm daran teil, weil die Single während einer weltweit ausgestrahlten Live-Schaltung aus dem Plattenstudio aufgenommen wurde?
Auf dem Bildschirm die Beatles samt Entourage und «Feinden» (Rolling Stones) und Ravi Shankar, in dessen Exerzitien die vier Liverpooler Arbeiterjungen ja gerade, wie man auch an den Bärten und dem Outfit sehen konnte, von einer Boygroup zu buddhistisch angehauchten Hippies geworden waren. Und ihre Botschaft war – zu Zeiten, als täglich neue Massaker aus Vietnam über denselben Bildschirm fluteten –, dass eine weltumspannende LOVE alle Kriege und alle Ungerechtigkeiten der Welt besiegen könnte. Eigentlich auch eine christliche Botschaft. Insofern war der Fernseher ein Licht einer weltumspannenden Friedenslichterkette von zugeschalteten Fernsehern, die nach Milliarden zählte. Und entsprechend erhoben fühlte man sich. Nicht als anonymer Teil eines Konsumschwarms, der am nächsten Tag die klug kalkulierte Single im Plattenladen kaufte und so die Elec- trola um ein paar Milliarden reicher machte. Obwohl alle genau das taten. Sondern als Mitglied einer weltumspannenden sozialen Plastik, die durch den TV-Konsum und am nächsten Tag den Plattenkauf gegen die Kriege der Welt im Allgemeinen und die aggressive imperialistische Politik der USA im Speziellen protestierte. So funktionierte eben Pop – damals wie heute … Am Schluss des Songs gab es dann noch einen «fading out chorus» der mitsingenden Freunde und Feinde, praktisch der gesamten weltweiten Pop-Prominenz, Mick Jagger eingeschlossen. Dieser Chor gab der Plattenaufnahme eine weltumspannende Gültigkeit – weil ja eben a l l e Popgrössen der 60er mit «LOVE is all you need» die Hippie-Aussage der Beatles bekräftigten. Wer genau hinhörte, vernahm ausserdem noch den zynischen, frechen, klugen John Lennon, akustisch kaum noch zu unterscheiden, der über diesen verebbenden Schlusschor sein «She loves you, yeah, yeah, yeah» paraphrasierte, den ersten Beatles- Hit, der zu dem Zeitpunkt kaum 4 Jahre alt und doch schon Lichtjahre entfernt war. Er rief allen in Erinnerung, dass «LOVE» «früher», in Liverpool, eigentlich die erste Liebe zwischen Junge und Mädchen gemeint hatte, dass also dieses weltumspannende hippieske Gefühl eines spirituellen Erhobenseins sich herleitete von den Wallungen der 5- oder 18-Jährigen, wenn sie grosse Augen, schöne Formen und den Duft der 17-Jährigen atmeten. Dass also Sex und Gott also eigentlich eins waren – eben LOVE.
Die LOVE, die alle brauchten, um die Welt wirklich zu verändern. Make LOVE, not WAR. Mindestens Zen- Buddhismus war das – damals.
Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment – war einer der Wahlsprüche der Neuen Linken, die ungefähr zur gleichen Zeit in den Jugendjargon Aufnahme fanden, direkt neben den coolen Sprüchen des Werner Enke aus May Spils «Zur Sache Schätzchen» (von dem allein Uschi Glas übrig geblieben ist). Das war die erklärte Kampfansage an die Treue, an die bürgerliche Familie, an die tradierte Form von reiner oder unschuldiger Liebe. Das war der Anfang des Dogmas, das heute alle – zumindest die öffentlichen – Diskurse zum Thema Beziehung-Ehe-Liebe bestimmt: das Dogma der Promiskuität!
Auf nichts können sich in jeder Talkshow oder in den Leitartikeln der Sonntagszeitungen Journalisten oder Meinungsführer so schnell einigen wie auf die Feststellung, dass Gott tot sei bzw. Ehe und Treue etwas von vor- gestern. Wenn von Billy Clinton über Geri Müller bis Karl Dall oder Udo Jürgens Präsidenten, Politiker und Popikonen uns die Promiskuität bzw. den Seitensprung als ein «Muss» vorleben, fühlen sich alle, die noch treu sind und verheiratete Familienmütter oder -väter, so etwas wie «von vorgestern» …
Wenn noch Ehe, dann zumindest mit Seitensprung, und eigentlich, wie beim Bachelor ersichtlich, geht Pro- bieren immer über Studieren (Prüfen). Nix mehr mit Drum prüfet, wer sich ewig bindet … Allein das ewige Binden gilt als out, genauso out wie von «mein Mann» oder «meine Frau» zu sprechen. Lebensabschnittspartner geht allenfalls – mit einem Augenzwinkern, das vielleicht schon gerade den nächsten Flirt einleitet.
Aus der Ehe, der Verlobung oder der Liebe wurde die Beziehung – ein Wort, das sich mindestens so erotisch an- hört wie Versicherung oder Beschleunigung und aus der Werkstatt der Soziologie-Ingenieure stammt. Es ist bis heute, fast 50 Jahre lang, der alles umfassende Begriff ge- worden für das, was Erich Fromm, der jüdische Psycho-analytiker, 1968 ganz altmodisch «Die Kunst der Liebe» genannt hatte. Um sie zu retten, die Liebe. Vergeblich. Seit 50 Jahren rast die Wissens- und Technologiegesellschaft von einer Neuerung zur andern: von Schellack zu Vinyl, von Vinyl zur CD, von der CD zum I-pod, vom I-pod zum Smartphone – und wieder zurück. In der LOVE, wie sie der Mainstream propagiert, gibt es seit 50 Jahren «rasenden Stillstand», sie bleibt so promiskuitiv, wie sie 1968 wurde. Genauso, wie die Bands von damals die Bands von heute sind – oder zumindest die von heute so tönen wie die von damals. Von den Stones bis Ten years after, von Tina Turner bis Cher, von Queen bis Muse … Die Pop-Moderne ist genauso unfähig zur Erneuerung oder Neuerfindung wie die Beziehungs-Unkultur.
Beide allerdings haben dagegen vollständig die Medien ergriffen, bestimmen sie und haben so diese existentiellen menschlichen Sphären der Musik und der Liebe reduziert auf eine unendliche, unentrinnbare Schleife des fortgesetzten Konsums. Mit der einzigen Botschaft: For- ever young! Pubertät bis ins Rentneralter! Wem nützt das? Nicht mehr der Electrola – die gibt es schon lange nicht mehr. Sie ist aufgegangen in einer der vom gegen- seitigen Auffressen immer grösser und fetter gewordenen elektronischen Riesenkraken, die am Ende alle in einem einzigen Weltkonzern aufgehen werden wie ein Kuchen- teig, höchstwahrscheinlich ist der dann so rund wie ein Apple. Dem nützt das, diesem endgültigen medialen Gesamtkapitalisten – denn er hat dann nicht nur die Kontrolle über unsere Körper und Köpfe, sondern auch über unsere Herzen. Sofern sie noch nicht aus Stein sind bzw. aus «seltenen Erden». Und höchstwahrscheinlich ist das dann oder schon heute wirklich nur e i n Mann.
ABER – das ist das Verrückte – sie sind tatsächlich immer noch nicht aus Stein oder digital, unsere Herzen, zumindest noch nicht am Anfang des Erwachsenseins. Wenn ich meinen 16-jährigen Schülern z. B. im Englisch- unterricht einen Auftrag gebe, über «My future life» zu schreiben, dann gibt es niemanden, der oder die schreibt: «I’d like to get famous, to become a rich women or a successful manager.» Sie schreiben alle, dass sie einen Freund oder eine Freundin fürs Leben kennenlernen wollen, dass sie später eine Familie gründen, einen Mann oder eine Frau haben wollen, dass sie gerecht und liebevoll zu ihren Kindern sein wollen. Im 21. Jahrhundert! Sie sind alle, trotz der tagtäglichen Indoktrination der Popkultur, wert- konservativ! Die Jungen! Niemand will Single sein, niemand rechnet mit Scheidung, keiner schreibt sich das Ego auf die Fahnen und die Karriere und die Untreue oder die Promiskuität. Und sie sind weiss Gott nicht naiv – kennen sie das alles doch zu Genüge von ihren Eltern … Ihnen allen sind – auch wenn die Hälfte mittlerweile Trennungskinder sind – Treue, Heirat und Familie das Wichtigste. Ist denn der Mensch wirklich unbelehrbar, dass er s o «unemanzipiert» bleibt, dass er/sie seinen /ihren «pursuit of happiness» definiert über das Private, das private Glück, und n i c h t über die öffentliche An- erkennung in Beruf und Gesellschaft – wie es eigentlich a l l e Opinion Leader seit Jahrzehnten fordern? Selbst der Gesetzgeber bestraft (steuerlich) d i e Frauen oder Männer, die sich dafür entscheiden, das Familiäre, die Er- ziehung der Kinder wichtiger zu nehmen als ihren Bei- trag zum Bruttosozialprodukt. Wer das schon einmal gelebt hat, weiss, wie er/sie sich rechtfertigen muss dafür, sich gegen «Karriere» und für die Liebe und das private Glück entschieden zu haben…
Den oben genannten idealen medialen Gesamtkapitalisten stelle ich mir in Turnschuhen und Trainingsanzug durch Winterthur, Singapur oder Davos streifend vor. Harmlos wie der Freak oder der Frührentner von nebenan, eine Plastiktüte mit all seinen Scheckkarten in der Hand, mit der Kontrolle über 43 % der Rohstoffmärkte der Welt. Längst hat er die Frauenbewegung, die sogenannte Emanzipation, die Gender-Forschungsprojekte, die Soziologielehrstühle und rot-grünen Parteiprogram- me dieser Welt in seinen Dienst genommen (er ist ihr Sponsor) – und hat die Jugend trotzdem noch nicht auf seiner Seite. Sie ist weltweit und mehrheitlich immer noch heterosexuell, will sich fortpflanzen, Familien grün- den und ein wenig vorhersehbaren «pursuit of happiness». Sie will nach wie vor Liebe.
Sie will einfach ihr Privatleben leben und braucht da- für – neben dem ausreichenden Geld für einen eigenen Lebensunterhalt, über das allerdings eine wachsende weltweite Mittelschicht im Zeitalter der Globalisierung verfügt – einen einzigen Rohstoff: LOVE. LOVE IS ALL YOU NEED. Der erklärte Rückzug ins Private.
Jetzt aber holt er aus zum entscheidenden Schlag, und den landet er bei der Jugend. Jetzt fängt er sie, der «Rattenfänger von Silicon Valley». Das Medium: «Social Media»! Er stellt der Jugend die entscheidende Frage: Das «Private» – ist das denn überhaupt noch zeitgemäss im Zeitalter der sozialen, also öffentlichen Medien? Hiess es denn nicht schon vor 50 Jahren: «Das Private ist poli- tisch» – und war nicht damit gemeint, dass, wer das noch trennt, das Private und das Öffentliche, schon von vor- gestern ist? Mark Zuckerberg – auch so ein Plastiktüten tragender Turnschuh – hat den Hippie-Medienphiloso- phen Marshall MacLuhan gelesen: «The medium is the message» – das Medium i s t die Botschaft. Und er hat sein Imperium auf den Roh-Stoff gebaut «the dreams are made of …»: auf die Träume, Wünsche und das Begehren, die im Privaten, hinter den berühmten «vier Wän- den», unzensiert wuchern können. Milliardenfach auf der ganzen Welt. Dieser Stoff war bisher zwar manipulierbar – aber er war trotzdem unkontrolliert. Entzog sich der Sichtbarkeit und wurde höchstens bei Wahlen, Abstimmungen oder Marktforschungsexpertisen in Ahnungen spürbar. Seit «facebook» wird er kommuniziert – u n d kommentiert und kontrolliert. Denn (siehe oben): Das Medium, also «facebook», ist die eigentliche Botschaft des Privaten. «Du bist nicht allein …» hatte schon Roy Black versprochen.
Aus der Not – in die natürlich auch meine Eng- lisch-Schüler geraten werden, wenn sie merken, dass es bis auf dröhnende Techno-Drogen-Partys oder den Arbeitsplatz – der zumeist aus Computer bestückten Grossraumbüros besteht – kaum Räume gibt, in denen LOVE entstehen könnte – macht Zuckerberg e i n e «Tugend» (und zwar nur seine): Die virtuelle Online-Präsenz verbindet jeden mit allen, macht uns zu Bewohnern des globalen Dorfes und lässt uns die faktische Einsamkeit vor den Bildschirmen ertragen, in der wir eigentlich emotional erfrieren. Erst wenn meine Schüler keine Schüler mehr sind, werden sie merken, dass die einzige Zeit im Leben, in der sie nicht einsam waren und berechtigte Hoffnungen auf ein Glück zu zweit haben durften, die Schulzeit war. Die kleinen und grossen Pausen. Mit den Kollegen, die anonyme Bürokratie zusammengewürfelt hatte, und die zu Freunden fürs Leben wurden. Und sie werden merken, dass ihr Wunsch nach Liebe, Partner und Kindern gar nicht mehr vorgesehen ist. Die Sehnsucht danach bleibt – und lässt sich viel folgenreicher, länger und grundsätzlicher, von Zuckerberg und Co. digital angefeuert und scheinbefriedigt, in bare Münze um- setzen. Via Triebsteuerung bei den Männern, via Chatroom – Klatschen bei den Frauen. 70% des gesamten Internetumsatzes wird aufgebracht für den Besuch von Porno-Seiten. Mit verheerenden Folgen für die Liebe und den Nachwuchs. Die einen suchen vergeblich bei «parship» und Co. nach dem Traummann oder der Traum- frau, die sie immer wieder fast kennenlernen, die anderen verlieren ihre Potenz und ihre Liebesfähigkeit bei der so- genannten «Liebe mit sich selbst» vor den quälend endlosen Pornoseiten. Beide Typen lassen auf diesem Wege viele Milliarden realen Geldes im digitalen Universum liegen und verpassen jede Chance eines analogen, also realen Liebeslebens.
Erinnern wir uns, wie viel Dunkel und wie viel Privatheit es brauchte, bis man, vielleicht beim Klammer- blues-Tanzen oder auf einer nächtlichen Parkbank, zu ersten Liebesgeständnissen, zum Händchenhalten oder gar Küssen kam. Ganz zu schweigen von der Erotik: Wie viel Alleinsein, Dunkel und Schweigen notwendig war, dass Sex stattfinden konnte, wie viel Vertrauen, damit die versprochene Männlichkeit auch stand … Heute wird je- des Geständnishatroom oder Blog auf den öffentlichen Marktplatz der Facebook-Gemeinde gezerrt und «geliked», und je frivoler desto erfolgreicher, mehr «likes». Vor dem ersten Realkontakt hatte man schon so viel öffentliche Annäherung, dass man die Einlösung am liebsten ganz nach hinten schiebt. Wer ist schon ein «Bachelor», der öffentlich mit drei Frauen auf einmal flirtet, pettet, knutscht und schläft? Überhaupt, schlafen – die einzigen Männer, die unter den Augen einer voyeuristischen Öffentlichkeit zu Sex in der Lage sind, sind Porno- darsteller – mit mehr als fragwürdigen und, weiss Gott, Liebe tötenden Methoden … Friedrich Engels schrieb vor 150 Jahren, dass die Familie, in der die Frau zumindest arbeitstechnisch dominiere, der letzte Bereich sei, der vor dem gesamtkapitalistischen Verwertungsprozess geschützt ist (die Frauenbewegung der 1970er Jahre rief das einmal in Erinnerung – bevor alle Frauen «Vogue» abonnierten). Und er setzte Familie mit «Privatsphäre» gleich. Jürgen Habermas, der in den 80er Jahren schon die «Neue Unübersichtlichkeit» kommen sah, hatte in den 70ern herausgearbeitet, dass die bürgerliche Gesell- schaft, also die soziologische Grundlage für die politische Form der Demokratie, wie wir sie leben, die Dichotomie von privat und öffentlich brauche: Nur die Gesellschaft, in der die Tür zur Privatheit (der Familie) geschlossen werden kann, kann auch einen öffentlichen «Markt», die Agora der Polis, die politische Bühne garantieren. Beides muss bleiben, unterscheidbar sein und kann so einen Staatsbürger schaffen, der als «Player» zwischen diesen Sphären wechseln kann … Insofern wäre der Kampf um die Privatheit auch ein Kampf für die Demokratie und die Menschenwürde. Und eben vor allem ein Kampf um die Liebe. Lasst uns wieder privates «Dunkel» schaffen, «in dem gut Munkeln» ist.
Als ich im Shanghai der 90er Jahre einmal nachts durch einen Park ging, stolperte ich fast sekündlich über Liebespaare auf dem Rasen, in den Büschen usw. Mein chinesischer Freund sagte mir, dass sei hier schon seit Jahrzehnten so. In der Öffentlichkeit seien seine Landsleute zurückhaltend, Berührungen, Vertraulichkeiten seien nicht üblich. Aber in der Nacht gebe es das Dunkel des Parks, in dem jedes Paar die Privatheit des anderen respektiere und sehr für sich sei und sehr freizügig. Auch weil, damals aus Platzgründen, sich viele Familien die Wohnungen teilen mussten, die Privatheit also nur in der dunklen «Öffentlichkeit» geschützt sei. Eben auch aufgrund des entsprechenden gegenseitigen Respekts. Rousseau hat schon vor 250 Jahren am Anfang seines Entwurfes des «Contrat Social» visionär gezeigt, wie die ursprüngliche Freiheit des Menschen mit seinem Zusammenleben in der Familie verbunden war. Und wie, seit der Sklavenhaltergesellschaft über den Feudalismus bis zum Kapitalismus, ein In-Ketten-Legen und Unterwerfung stattfand durch die Zerstörung der natürlich gewachsenen familiären Bande. Immerhin beruht auf dieser Erkenntnis d a s Werk, auf dem die ersten demokratischen Verfassungen der Moderne aufbauen!
Verbünden wir uns mit der Jugend, die nach wie vor von der analogen LIEBE träumt, von Familie und Glück zu zweit, dritt, viert oder fünft. Warum m u s s dieser Traum eigentlich unerfüllt bleiben? Helfen wir ihnen dabei, und lassen wir sie nicht in die «emanzipatorischen» Fallen laufen, aus denen wir nicht mehr herauskommen.
Dann werden sie auch uns befreien.
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