Sie haben viel Zeit investiert, die Schüler und Schülerinnen, Kolleginnen und Kollegen und er, Rolf Johannsmeier, in das Theaterprojekt von «Red cap and the black wolves». Entstanden ist eine Erfolgsproduktion, die im Bieler «Theater am Rennweg» fünfmal ausverkauft gezeigt wurde. Vor den Betroffenen. Eine Hip-Hop-Version der Geschichte vom Rotkäppchen, das im internationalen Grossstadtdschungel die Tiere des Waldes ermutigt, gegen die Herrschaft der Wölfe aufzustehen. Auch ein Stück gegen das Mobbing.
Und es bleiben die pädagogischen Geschichten zur Entwicklung aller Beteiligten: Obwohl die Kids anfangs nur mässig begeistert waren, einige von ihnen gar nichts mit Schauspielerei am Hut hatten. Johannsmeier erzählt, wie er die Theater-Gegner dann doch dazu brachte, zu spielen und eben die Rolle der dominanten schwarzen Wolfsgang zu übernehmen. Sie spielten sie so überzeugend, dass das Projekt ein Erfolg wurde. «Projekte eignen sich für Integrationsklassen», sagt Johannsmeier. «Heterogenität stört nicht, es braucht sie geradezu.» Schule sei ein Theater. Für Rolf Johannsmeier ganz bestimmt. Und er ist der Regisseur, der die Jugendlichen dazu bringt, ihre Rolle zu spielen, ihre Stärken auszuspielen, ihre Schwächen zu schwächen und auch ihre Schätze zu schätzen.
Begeistert von kooperativen Lernformen
Zwanzig Jahre lang war er als Regisseur tä- tig, hat selber Theaterstücke geschrieben. Vor neun Jahren kehrte der ausgebildete Sekundarlehrer an die Volksschule zurück , führte drei Sekundar-Jahrgänge von der 7. bis in die 9. Klasse, bemühte sich dabei vor allem um die Berufswahl («Das motiviert die Schülerinnen und Schüler für das schulische Lernen: dass es ums Leben geht!») und liess sich auf den integrativen Schulversuch ein. Drei Jahre lang war er Klassenlehrer im besonderen Integrationsprojekt mit zwei Integrationsklassen und einer überschaubaren Anzahl an Lehrpersonen. Die Hauptfächer wurden im Teamteaching unterrichtet, 20 Nationen waren vertreten, die Klassengrösse lag bei 18 Kindern und die Leistungsbandbreite war enorm. Johannsmeier bevorzugt kooperative Lernformen, weil Kinder von Kindern lernen. «Zu Beginn hatte ich vier RiLZ-Schüler. Jetzt keine mehr», sagt er nicht ohne Stolz. Die Leistungsstarken übernehmen Verantwortung in der heterogenen Gruppe und wachsen an ihrer Rolle, die Schwächeren sind offener für die Lösungen von Schülerinnen und Schüler als von Lehrpersonen. Gemeinsam wird über Lernstoffe diskutiert. Die Leistungen werden besser. Wird Arbeit aufgeteilt, steigt die Motivation und alle kommen schneller vorwärts. Es bestehe höchstens die Gefahr, dass das mittlere Niveau sich zufriedengibt und nicht besser wird.
Zu anstrengend, keine Nachfolger
Johannsmeier ist überzeugt vom Integrationsprojekt: «Auch Pestalozzi – der Schweizer Erfinder der Reformpädagogik – unterrichtete n u r integrative Klassen. Selektion konnte er sich in seiner Waisenschule nicht leisten. Viele Fachlehrer auch nicht. Also: Kooperative Lernformen, die besseren oder älteren Schüler als Hilfslehrer. Er machte aus seiner Not eine Tugend, ein Vorbild, das die Staatsschule, die sich vor allem die Selektion auf die Fahnen geschrieben hat, bis heute nicht erreicht.» Aber trotzdem: Im Juli 2013 wurde der Versuch vorläufig abgeschlossen. Weil sich keine Nachfolgerinnen oder Nachfolger finden liessen. Nicht weil das Projekt schlecht war, sondern weil es sehr intensiv und zeitaufwändig ist. Anstrengend ist gemäss Johannsmeier nicht primär das Fachliche, sondern vor allem das Soziale. Die 60- bis 70-Stunden-Woche war für ihn die letzten drei Jahre die Regel.
Klasse ersetzt Familie
Er zieht folgendes Fazit: «Es gibt immer mehr Einzelkinder. Der Fernseher ersetzt die emotionale Bindung. Medial sind unsere Kinder omnipotente Riesen, gleichzeitig aber emotionale Zwerge. Viele haben arge primär-narzisstische Tendenzen. Immer mehr alleinerziehende Mütter, Patchwork-Familien und Trennungen. Die kommen meistens, wenn die Kinder Jugendliche und anstrengend werden – also zur Sekundarschulzeit. Zu Beginn der 7. Klasse gibt es mittlerweile ca. 25 Prozent getrennte Eltern, in der 9. sind es dann meistens mehr als die Hälfte. Wenn die Schüler in die Krise Pubertät geraten und eigentlich gerade Mutter und Vater brauchen.» Die Lehrer müssten nun dafür eine geeignete Lernumgebung schaffen. Eine grosse Herausforderung. «Wir müssen als Lehrer akzeptieren, dass die Klasse heute eine Familie ersetzt. Sozialarbeit ist Teil der Institution Schule, der Serie: Integration August und September/ août et septembre 2013 berner schule/école bernoise 25 Heterogenität stört nicht, es braucht sie geradezu! Für Lehrer Rolf Johannsmeier aus Biel ist Integration klar der richtige Weg. Aber: Sie dürfe nicht auf dem Buckel der Empathie und Kontinuität schaffenden Lehrpersonen ausgetragen werden. 24 berner schule/école bernoise August und September/ août et septembre 2013 Lehrer übernimmt immer mehr Funktionen, die eigentlich die – nicht mehr oder nur unvollständig vorhandenen – Eltern hätten. Die Schule kann nicht auf Bindung und Emotionalität verzichten – aber das Fachpersonal, das dafür an den Schulen engagiert wurde ( 50 Prozent Sozialpädagogik bei über dreihundert Schülern), das gute, professionelle Arbeit leistet, kann nur die akuten Fälle betreuen, die wo es brennt. Im Normalfall werden diese Aufgaben – vom Ringgespräch mit Eltern, Vormunden, Pflegefamilie, Jugendamt oder Erziehungsberatung bis zur Berufsbewerbung und Antragsstellung – vom Klassenlehrer wahrgenommen, ohne dass das irgendwo in seinem Pensum auftaucht. Als Integrationsklassenlehrperson habe ich zwar 2 Klassenlehrstunden, eine mehr als normal, aber ungefähr 15 bis 20 Stunden Arbeit zusätzlich pro Woche. Neben meinen 24 Stunden Unterricht, für deren Vor- und Nachbereitung (Planung, Materialproduktion, Auswertung) ich noch mal 24 Stunden ansetzen kann. Macht 60 bis 70 Wochenstunden. Mindestens.
Nicht auf dem Buckel der Lehrpersonen
Johannsmeier skizziert sein Integrations-Erfolgsmodell: Das Klassenlehreramt aufwerten und mit genügend Ressourcen versehen. « Klassenlehrpersonen haben 20 bis 30 Prozent mehr Belastung als andere Lehrpersonen und 50 Prozent mehr Aufwand. «Sie sollten mindestens 5 Lektionen freigestellt werden und in dieser Zeit ohne schlechtes Gewissen arbeiten dürfen. Es braucht Kontinuität in den Beziehungen. Also nur wenige Lehrpersonen an einer Klasse. «Integration ist schon der richtige Weg. Nur darf sie nicht auf dem Buckel der Empathie und Kontinuität schaffenden Klassenlehrpersonen ausgetragen werden. Andererseits ist sie der Königsweg zur Überwindung des Primats der Selektion, um endlich die fördernde, kompetenzorientierte, schülerzentrierte Schule zu werden, die alle Reformen und die PHs seit 30 Jahren fordern. Jetzt auch der Lehrplan 21. Die sie in den Pisa anführenden skandinavischen Ländern seit 30 Jahren haben. Hier wird die Theorie der Ausbildungsseminare endlich Schulpraxis.»
Assessments für die Lehrerauswahl
Eine gute mediale Ausbildung für die Lehrpersonen muss gemäss Johannsmeier gewährleistet sein. Kooperative Lernformen mit entsprechend geeigneten Lehrmitteln würden viel vereinfachen. Das 45-Minuten-Korsett gehöre abgeschafft. Es brauche grosse Zimmer, viel Platz. Ein Computer für alle sei Bedingung. Dazu ist ihm wichtig, dass der Lehrernachwuchs besser auf den Praxisschock vorbereitet werde. In den letzten neun Jahren hat er als Praktikumslehrer der PHBern mehr als viele angehende Lehrpersonen betreut. «Es sind ausgezeichnete pädagogische Talente unter den jungen LehrerInnen. Einige sind auch bei uns an der Schule gelandet.» Aber er findet, es brauche Assessments für die Lehrerauswahl. «Niemand macht heute die Matur, um an die PH zu gehen. Der Gymer soll immer noch der steile, sichere Weg zur Karriere in Führungsetage oder Krankenhaus sein. Wer es an die ETH geschafft hat, studiert, Jus, Medizin, Architektur oder Ökonomie. Der wird nicht Lehrer. Also kommen zur PH oft die, die keinen Karriere-Studienplatz bekommen haben. Also ‹Elite›, die keinen Elitestudienplatz ergattert hat. Sind das die, die wir in der Volksschule als empathische Pädagogen brauchen? Die PH ist zu oft eine Kompromisslösung und bringt nicht genug berufene Lehrpersonen hervor.» Dazu kämen immer mehr PH-Dozenten ebenfalls aus den Gymnasien, nicht aus der Volksschule, also von der Basis, für die sie ausbilden. An den «alten» Seminarien schätzte er, dass Pä- dagogik, Methodik und Didaktik handwerklich gelernt wurden. «Früher gab es Schul-Meister. Da klingt Handwerk mit, wie bei der KMU. Das ist es, was wir heute wieder mehr brauchen: nicht nur Administratoren des digitalen Wissens, sondern Meisterinnen und Meister des kooperativen Lernens in einer immer komplexeren Welt.»
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